Medizin Mensch Gesellschaft (Dezember, 1986 IV), Band 11, Heft 4, © Ferdinand Enke Verlag Stuttgart, pp. 247-253.
Prof. Rihito Kimura wearing a smile

Bioethik als metainterdisziplinäre Disziplin





Prof. Rihito Kimura



ZUSAMMENFASSUNG: Die Bioethik ist eine völlig neue Disziplin, die auch über die bisherigen Formen von Interdisziplinarität hinausgeht. Sie ist metainterdisziplinär; sie entprofessionalisiert die Medizin; sie ist eine Bürgerrechtsbewegung. Eine neue Form von Solidarität mit allen Formen von Leben (eine alte konfuzianische Idee) wird uns in das nächste Jahrtausend leiten müssen.

SUMMARY: Bioethics is a totally new form of discipline which goes beyond the notion of interdisciplinary studies: it is suprainterdisciplinary; it is deprofessionalizing medicine; it is a civil action movement. A new value of solidarity with all forms of life (a traditional Confucian concept) will have to lead us into the next millennium.


Das Zeitalter der Manipulation des Lebens

Unsere Gesellschaft ist in rapidem Wandel begriffen. Wir leben jetzt im "Zeitalter der Lebensmanipulation". Das Leben auf der Erde, auch unser menschliches Leben, wird von künstlichen Eingriffen manipuliert, man denke an die Gentechnik, die extrakorporale Befruchtung, die Organverpflanzung, lebenserhaltende Maßnahmen und verschiedene Formen der Kontrolle des Körpers und Geistes. Insbesondere durch Anwendung wissenschaftlicher und technologischer Methoden, die in den letzten 20 Jahren auf dem Gebiet der Biomedizin erforscht worden sind, sind Manipulation und Intervention heute mehr und mehr üblich, ohne daß ernsthaft über ihre langfristigen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und die natürliche Umwelt in Japan nachgedacht wurde.
Ist überhaupt etwas Gutes an der Manipulation? Warum haben wir enorme Anstrengungen unternommen, um die Natur, die Lebewesen, auch die Menschen zu manipulieren? Vielleicht, weil es in unserer Natur als "homo faber" liegt, die Wahrheit zu suchen, Wissen zu sammeln und anzuwenden, etwas herzustellen oder ein Problem, z.B. das Leiden, zu lösen. Jedoch müssen wir jetzt als "homo sapiens" über die fundamentale Frage nachdenken, ob wir unsere Keimzellen manipulieren dürfen, um Erbkrankheiten zu verhüten oder bessere Erbanlagen im Sinn der Gesellschaft zu erreichen. Dies ist nicht nur beim Menschen technisch machbar, sondern wurde tatsächlich schon bei verschiedenen Genen von Bakterien, Viren, Pflanzen usw. ausgeführt, um pharmazeutische, landwirtschaftliche und andere kommerzielle Produkte zu gewinnen.

Bis zum Jahr 2000 wird die Biotechnik in Japan wahrscheinlich eine ganz wesentliche Rolle auf so unterschiedlichen Gebieten spielen wie der Forstwirtschaft, der Fischerei, der Lebensmittelproduktion, der Papier- und Zellstoffherstellung, der Chemie- und Pharmaindustrie, der Elektronikbranche und der Abfallverwertung und Schadstoffbeseitigung, die einen riesigen Markt von etwa 15 Billionen Yen insgesamt ausmachen.

Es liegt auf der Hand, daß sich unser ganzer Lebensstil, einschließlich der Eßgewohnheiten und der Arbeitsbedingungen, nach den Vorgaben und Vorstößen der biotechnischen Industrien richten wird. Seit 1980 bin ich als Kritiker dieses bio- und medizintechnischen "Entwicklungsfiebers" bemüht, auf die schwerwiegenden Implikationen der Entwicklung in Japan aufmerksam zu machen. Zugegeben, es gibt sehr positive und wirtschaftlich zukunftsträchtige Anwendungen der biomedizinischen Technik; jedoch müssen wir die negativen Wirkungen im Auge behalten, um das Wohl der Bevölkerung, insbesondere in Japan, zu schützen, wo wir die Tragödie der Minamata-Krankheit erlebt haben, die von einem führenden Stickstoffdünger-Hersteller in Südjapan ausgelöst worden war. Riesige Mengen von Industrieabfällen, abgelassen in die Minamata-Bucht, verursachten eine Quecksilbervergiftung der Fische, die den ortsansässigen Familien zur Nahrung dienten, was unter anderem die Folge hatte, daß kongenital geschädigte Babies mit Störungen der geistigen Entwicklung und Lähmungen der Beine und Arme zur Welt kamen. In diesem Fall, wo die Gruppe der Geschädigten einer mächtigen Industrie gegen¨berstand, dauerte es über 30 Jahre, bis schließlich auf dem Rechtsweg eine bescheidende Schadensregelung erstritten werden konnte.

Wohl ist Japan heute nach einem Regierungsbericht eines der strengsten und am schärfsten kontrollierten Länder, was die Luft- und Wasserverschmutzung, die Lärmbelästigung usw. anbelangt. Trotzdem hat die japanische Laienöffentlichkeit ein tiefsitzendes und naiv-spontanes Unbehagen gegenüber einem zu raschen Wachstum von Wissenschaft und Technik. Vielleicht deswegen, weil wir als erstes Volk in der Welt unter einer ganz außergewöhnlichen Errungenschaft der Wissenschaft und Technik 1945 in Hiroshima und Nagasaki zu leiden hatten.

Das Paradigma der Bioethik

Im Zusammenhang mit dem "Zeitalter der Lebensmanipulation" verstehe ich "Bioethik" als eine vollkommen neue Art von Disziplin, die &uumol;ber das, was Interdisziplinarität bedeutet, hinausgeht. Nach meinem neuen Paradigma hat die Bioethik als eine integrierte Disziplin drei verschiedene Aspekte.

Der "metainterdisziplinäre" Aspekt der Bioethik

Die Zusammenarbeit in der Forschung zwischen verschiedenen traditionellen akademischen Fächern auf einem bestimmten Gebiet oder über ein bestimmtes Thema wird allgemein als fachübergreifend oder interdisziplinär bezeichnet. Jedoch ist infolge der zu engen Zerstückelungs- und Abgrenzungstendenzen der akademischen Fächer, die sich mit dem Menschen, dem Leben und der Natur befassen, und infolge des methodologischen Vorgehens, bei aller Bemühung der Erfolg im Sinne einer wirklichen Interaktion der verschiedenen zusammenarbeitenden Disziplinen nicht gerade überzeugend. Aus der Sicht jeder akademischen Disziplin haben sich Probleme in der je eigenen Fachsprache, der eigenen Definition und der eigenen Forschungsmethode entwikkelt.

Die Bioethik - nach meinem Paradigma - hat dagegen immer eine interaktive Funktion über die traditionelle akademische Fachkompetenz hinaus. Im Rahmen der traditionellen, paternalistischen Beziehung zwischen Arzt und Patient beispielsweise konnte der Begriff "Patientenrechte" nicht von innen heraus gebildet werden. Bioethische Aspekte des Menschen im Medizinmilieu haben durch Entlehnung und Anwendung des Begriff "Recht" aus der juristischen Tradition das Bild des Patienten gewandelt; dieser Begriff wäre vielleicht in der Medizin nach ihrer internen Wissenschaftslogik als indifferenter Begriff zurückgewiesen worden. "Im Namen des Patienten" und "zugunsten des Patienten" ist immer nach den Kriterien des behandelnden Arztes ausgelegt worden. Jedoch hat sich die Situation in Japan - man denke an das Patientenrecht zur endgültigen Entscheidung über eine medizinische Behandlung und die neuerdings erforderliche "informierte Zustimmung" ("informed consent") des Patienten - durch die Entwicklung von Ideen in der bioethischen Entscheidungsfindung allmählich gewandelt.

Die "Metainterdisziplinarität" der Bioethik hat auf die Medizin und ihre Leistungen, auf die Rechtspraxis, auf die Philosophie, die Ethik, die Soziologie, die Ökonomie, die Religion usw. eine starke Wirkung gehabt und immer mehr Interaktionen herausgefordert, um die grundsätzlichen und praktischen Probleme aller Aspekte des Lebens zu lösen, nämlich Fragen des Beginns, der Qualität und des Endes des Lebens.

Nach meinem Verständnis ist Bioethik nicht nur eine Anwendung einer bestimmten ethischen Theorie auf dem Gebiet der Biologie und Medizin; es ist ein neues Forschungsgebiet jenseits des traditionellen akademischen Fachbegriffs sowie jenseits der interdisziplinären Studien. Und in diesem Sinn ist sie immer noch in der Ausformung begriffen, indem sie den Blick auf das Ganze des Lebens richtet.

Bioethik und Entprofessionalisierung

In den USA spielt Bioethik in der Wissenschaft schon eine große Rolle. Es gibt Kurse an Medical Schools, Engineering Schools, an Science and Philosophy Departments usw. Anhand von Lehrbüchern werden Fallstudien aus der klinischen Praxis betrieben, und die Dozenten kommen aus verschiedenen Disziplinen, wie Philosophie, Jura, Ethik, Theologie, Biologie usw. Es laufen an höheren Bildungseinrichtungen in den USA mehr als 1000 Kurse über ethische Fragen in Wissenschaft und Technik. Die Bioethik ist in Lehre und Forschung etabliert und nimmt sich in dieser oder jener Weise der Ethik- und Wert-Fragen an, die von der schnellen Entwicklung in Naturwissenschaft und Technik während der letzten 15 Jahre aufgeworden wurden.

In Japan ist die Bioethik trotz der ständigen Herausforderung in unserer Umwelt noch nicht rechtlich etabliert. Es gibt nur wenig Kurse über solche Fragen an den höheren Bildungseinrichtungen, abgesehen von Kursen in Medizinethik und Philosophie an einigen Medizinischen Fakultäten.

In der Öffentlichkeit jedoch ist das Interesse an der Bioethik wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für konkrete Entscheidungen weit verbreitet. Bis vor ganz kurzer Zeit hatte die Ärzteschaft, wie gesagt, die Macht, nach eigenem Ermessen über die medizinische Behandlung zu entscheiden. Der Entscheidungsprozeß nach bioethischen Grundsätzen hat nunmehr das Recht zunehmend auf den Patienten verlagert, im Einzelfall nach seinen eigenen Werten und moralischen Standards zu entscheiden. Natürlich ist dies als Prinzip der Autonomie verstanden worden. Das Recht des Patienten zur Entscheidung unabhängig von den Erfolgsaussichten entspräche insofern den bioethischen Grundsätzen, die vor allem in der "Akademischen Gemeinschaft" (academic community) der USA entwickelt worden sind.

Ich, als japanischer Jurist und Bioethiker, trat eher für das Konzept der. Verantwortungsteilung ein, die der japanischen Tradition der Entscheidungsfindung im biomedizinischen Bereich angemessener ist. Das Wort und die Logik des "Rechts" ist aus dem Niederländischen "regt" vor etwa 100 Jahren übernommen worden, wobei man sich eines chinesischen Zeichens bediente. Auch noch das Teilen der Information und der Entscheidung mit dem Arzt ist für viele japanische Patienten durchaus revolutionär, weil wir so sehr an eine autoritäre und paternalistische Einstellung der japanischen Ärzte gewöhnt sind, die im traditionellen, in China entstandenen konfuzianischen Ethos des "Jin" ihre Wurzeln hat. Die Medizin galt als eine "Kunst des Jin" und ist Ausdruck liebevoller Zuwendung, die der Arzt den Menschen erweist, die ihrerseits nie Fragen zu stellen haben. Wenn wir auch ein mehr sozialisiertes Gesundheitswesen und eine Sozialversicherungsmedizin in Japan aufgebaut haben, wobei die Ärzte innerhalb des Systems in ihren eigenen privaten Praxen arbeiten, halten sie doch die Idee des traditionellen "Jin" als grundlegend für ihre Dienste (Nikkei Medical, Mai/Juni 1975).

Mein Artikel über Patientenrechte, den ich für das "Japanese Journal of Hospitals" geschrieben habe, war der erste seiner Art und hatte sowohl bei den Ärzten als auch bei den Patienten eine große Wirkung. Die japanische Krankenhausgesellschaft griff die Sache auf und veröffentlichte in ihrem offiziellen Handbuch für Krankenhausärzte 1983 ihre Sicht des bioethischen Prinzips der Patientenrechte. Im Dezember 1984 fand in Tokio eine erste nationale Konferenz über die "Erklärung der Patientenrechte" statt.

Seit 1980 organisiere ich mit Freunden in ganz Japan kleine Studiengruppen auf Gemeindeebene, die sich mit Fragen der Bioethik befassen, z.B. eine Müttergruppe, eine Schwesterngruppe, eine Verbrauchergruppe, eine Ärztegruppe usw. Den Teilnehmern geht es darum, bioethische Fragen für sich selbst entscheiden zu können, um sich vor ärztlichem Kompetenzmißbrauch zu schützen, sich vor schädlichen Umwelteinflüssen zu bewahren und ihr Leben ohne Gefahr in den Gemeinden führen zu können. Die normalen Bürger und Laien wollen also im Gespräch mit einem Experten oder einer professionellen Fachautorität aufgeklärt werden, zum Beispiel über ihre Entscheidungsfreiheit bei einer medizinischen Behandlung oder über die Probleme der Einrichtung eines Genforschungslabors in ihrer Gemeinde.

Durch das ständig wachsende Interesse der Laienöffentlichkeit an Problemen, die ihr eigenes Leben, die Umwelt und ihre Gemeinde betreffen, hat sich einer der wesentlichen Aspekte der Bioethik herausgebildet, nämlich die sehr wesentliche Unterscheidung zwischen "Medizinethik" hauptsächlich für Ärzte und "Berufsethik" (professional ethics) für die Angehörigen aller Professionen. Zwar bleibt die Öffentlichkeit zu einem guten Teil abhängig von der Information seitens der Experten und Professionellen, aber sie muß sich nicht notwendigerweise der Meinung oder Entscheidung beugen, die diese innerhalb ihres eigenen Wertsystems treffen.

Die Meinungen und die Interessen der Laien sollten in einem demokratischen Entscheidungsprozeß sehr wohl berücksichtigt werden und gemäß meinem Konzept der "Bioethik" in der Politik ihren Niederschlag finden, nach dem die wertbehafteten Entscheidungen der Fachleute entprofessionalisiert werden sollten, so daß wir als normale Bürger wieder selbst über unser Leben entscheiden können.

Bioethik als Bürgerrechtsbewegung

Nach meinem Verständnis ist ein wesentliches Kennzeichen der Bioethik ihr Charakter der Bürgerrechtsbewegung. In dem Land, wo die bioethische Forschung am weitesten vorangeschritten ist, in den USA, wurden die Themen Leben, Tod, Umwelt usw. von Bürger- und Gemeindeinitiativen vorgetragen, die gegen soziale, wirtschaftliche, rassische und politische Ungerechtigkeit angingen. In diesem Sinn ist, meine ich, die Bioethik auch ein Ergebnis dieser Menschenrechts- und Bürgerrechtsbewegungen, die unter anderem für die Emanzipation der Frau, die Chancengleichheit, die Patientenrechte und dafür kämpfen, daß die Einrichtung von Genforschungszentren der Zustimmung der Bevölkerung bedarf. Es gehören auch die Proteste innerhalb der Universitäten dazu, die den Sinn wissenschaftlicher Wertfreiheit und wissenschaftlicher Autorität in Frage stellen - Bewegungen, die ein weitverbreitetes Phänomen in verschiedenen Ländern der Welt sind, so auch in Japan.

Sie sind eine Reaktion auf die offensichtliche Tendenz der staatlichen Macht und Autorität, das Leben, den Körper und den Geist der Menschen im Namen von Gesetz und Ordnung in den Griff zu bekommen. Die Struktur der Macht, die der Staat und einige andere politische, wirtschaftliche, religiöse und professionelle Organisationen aufgebaut haben, ist eines der meist beachteten Themen der bioethischen Forschung, da diese Strukturen für das Leben des einzelnen in einer bestimmten Gesellschaft bestimmend sind, manchmal im Guten, indem sie das Wohl der Menschen fördern, und manchmal im Schlechten, indem sie die Menschenrechte und das Lebensrecht des einzelnen mißachten.
Deshalb möchte ich auf den Bürgerrechtsaspekt der Bioethik ausdrücklich hinweisen. Besonders interessant für mich ist in diesem Zusammenhang die "bioethische Bewegung", die vom Bundesstaat Oregon in den USA kürzlich ausgegangen ist. 1983 und 1984 wurden auf Betreiben der Oregon Health Decisions - einem Projekt der Oregon Bioethics Conference - 300 Veranstaltungen in verschiedenen Gemeinden dieses Bundesstaates abgehalten. Mehr als 5000 Bürger des Staates Oregon kamen dort zu einem Meinungsaustausch über ethische Probleme im Gesundheitswesen zusammen. Unter Zugrundelegung der dort vorgebrachten Ansichten wurde eine Vorschlagsliste erarbeitet, über die dann die Delegierten des am 11./12. Oktober 1984 einberufenen Citizens' Health Care Parliament debattierten und abstimmten. Die vom Parliament gefaßten Resolutionen sind in der Broschüre "Society Must Decide" zusammengefaßt. Oregon war damit der erste Staat in den USA, der mit der Einsicht Ernst machte, daß bioethische Probleme im Gesundheitswesen den Bürgern nachgebracht und von ihnen entschieden werden müssen. Diese Einsicht gewinnt jetzt auch in anderen Bundesstaaten an Boden. Die von den Bürgern Oregons aufgegriffenen bioethischen Probleme betrafen vor allem 1. die Autonomie und Würde des einzelnen; 2. Krankheitsvorsorge; 3. Verteilungsgerechtigkeit bei Gesundheitsleistungen; 4. Kostenkontrolle bei der Gesundheitsversorgung und 5. Gerechtigkeit bei der Mittelzuweisung und bei Sparmaßnahmen.

In Japan haben wir diese Art systematische, gemeindeorientierte Vorgehensweise zur Erarbeitung bioethischer Richtlinien durch die Bürger noch nicht. Doch hat eine Schwesterngruppe in der Stadt Nagoya 1982 eine Initiative zur Förderung der Bioethik in Ausbildung und Studium gestartet und mit anderen schon erwähnten Studiengruppen als Teil einer Freiwilligenaktion, von der noch die Rede sein wird, zu einem Netzwerk verbunden.

Abschließende Bemerkungen

Nimmt man diese drei Aspekte als Paradigma der Bioethik, meine ich, läßt sich diese nicht als akademische Disziplin im traditionellen, klassischen Sinn begreifen. Es ist in der Wissenschaft ein völlig neues Konzept, auf den Entscheidungsprozeß in der Laienöffentlichkeit bei Wertungen über alle Fragen des Lebens zurückzugreifen. Dieser Rückgriff gibt natürlich auch den Fachleuten im Gesundheitswesen eine wertvolle Hilfe, die sich seit vielen Jahren mit diesen Problemen abmühen.

Es ist nur natürlich, daß die Bioethik als Wissenschaft heute ihre theoretischen Interessen über die Werte ihrer jeweiligen kulturellen Tradition hinaus auf den Dialog mit anderen ausweitet.

Als erstes Forschungszentrum für Bioethik in der Welt hat das Kennedy Institute of Ethics an der Georgetown University 1971 ein Asian and International Bioethics Research Program eingerichtet, dessen Leiter ich seit 1980 bin; parallel dazu läuft dort ein European Professional Ethics Program unter der Leitung von Hans-Martin Sass. Wir haben zusammen mit dem Institute of Medical Humanities an der Medical School der Kitasato Universität/Japan 1985 das erste japanisch-amerikanische Bioethik-Symposium in Tokio und Kanagawa durchgeführt. Die Medical School von Kitasato ist seit Mitte der 70er Jahre in Medizinphilosophie und -ethik in Japan führend.

Die Bioethik verdankt auch dem Council of International Organizations for Medical Sciences wertvolle Impulse, der die internationale Konferenz "Health Policy, Ethics, and Human Values" 1984 in Athen organisiert hat. Etwa 140 Fachleute aus 40 Ländern haben dort ihre Besorgnisse wegen der kaum zu überbrückenden Kluft zwischen den reichen und armen Völkern hinsichtlich der Gesundheitsversorgung einerseits und hinsichtlich der verschiedenen Wertsysteme der Gesundheitsverwaltung andererseits zum Ausdruck gebracht. Es muß eine Bioethik entwickelt werden, die mehr Rücksicht auf traditionelle, nicht-westliche Wertsysteme und Methoden nimmt, damit sie von den Menschen im Dialog und in der politischen Entscheidung akzeptiert werden kann. Hier ist auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene gerade ein Anfang gemacht.

In Japan beobachtet man in den letzten 15 Jahren eine Renaissance der japanischen Medizin nach chinesischer Tradition (Kampo), die in Japan auf eine 1000 jährige Geschichte zurückblikken kann, in China aber schon über 4000 Jahre lebendig ist. Kampo bedeutet 1. die ganzheitliche Sicht des Patienten, nicht die Fixierung auf die Krankheit; 2. eine naturalistische Tendenz im Gesundheitsverständnis; 3. fast keine Nebenwirkungen, d.h. eine sehr behutsame Behandlung und 4. besondere Eignung für chronische und Altersbeschwerden. Auf dem XVII th International Congress of Internal Medicine, der 1984 in Kyoto/Japan stattfand, wurde auf einem Symposium über traditionelle östliche Medizin diese japanische, eigentlich aus China stammende, auf die Wirkung von Heilkräutern bauende Medizin sehr positiv bewertet, und viele internationale Gelehrte gaben ausführliche Erfahrungsberichte und Ratschläge für ihre Anwendung, einschließlich der Akupunktur.

In Tokio, Nagoya und Kyoto entstand eine bioethische Netzwerk-Kooperative aus etwa 100 Schwestern, Hausfrauen, Studenten und Ärzten, die als freiwillige Helfer in der psychiatrischen Abteilung des Azumi-Krankenhauses in Mitteljapan sehr aktiv wurden. Getragen von der Idee eines patientenzentrierten Dienstes arbeiteten die freiwilligen Helfer mit den Ärzten und dem Pflegepersonal des Krankenhauses zusammen mit dem Ziel, die Lebenswelt der psychiatrischen Abteilung zu humanisieren. Auch offiziell bestallte Akupunktur-Spezialisten schlossen sich der Initiative an.

Für viele der freiwilligen Helfer, Patienten und Fachleute, die sich an dieser bioethischen Aktion im Krankenhaus beteiligten, war die wertvollste Erfahrung, wie wichtig es ist, den natürlichen Rhythmus oder das Geführ des in der Natur Geborgenseins wieder zu entdecken. Den Patienten erst die Füße zu waschen und sie dann barfuß im Freien laufen zu lassen, machte einen nachhaltigen Eindruck auf ihr Fühlen und Denken, wie viele der freiwilligen Helfer meinen.

Bioethische Aktivitäten wie diese sind in einigen städtischen Krankenhäusern in Japan angelaufen, stecken aber noch in den Kinderschuhen. Jedoch sollte hier vielleicht gesagt werden, daß immer mehr ganzheitliche Tendenzen bezüglich Gesundheit, Umwelt, Leben und Natur überhaupt spürbar werden und daß die Idee der Bioethik als Katalysator bei der Ausbildung einer völlig neuen, ganzheitlichen Behandlung aller Fragen des Lebens gesehen wird. Drei Aspekte der Bioethik werden bei japanischen bioethischen Aktionen sehr genau beobachtet:
Eine größere Sensibilität für die wechselseitige Abhängigkeit ist der Schlüssel zur Wiedergewinnung des wahren Menschseins als Teil der Natur mit allem Lebendigen im Sinne des japanischen, von der traditionellen budhhistischen Lehre des "EN" beeinflußten Verständnisses. Wir stehen alle miteinander, mit unseren Mitmenschen und mit der Natur in einem Zusammenhang. Es ist daher nicht verwunderlich, daß viele japanische Medizinische Fakultäten ihre eigenen buddhistischen Zeremonien für Versuchstiere haben, um ihnen für ihre Hilfe und ihr Opfer für die Menschen zu danken. Deshalb hat in der japanischen Bioethik auch die Idee ihren Platz, das Leben mit anderen Menschen, Lebewesen und der Natur in Zeiten der Not, der Krankheit, des Alters zu teilen, sowie positiv-schöpferisch zu leben in einer Welt, in der Empathie und "EN" Geltung haben.

Literatur

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12. Yuzon, L.A. (ed.): Towards an Asian Sense of Science and Technology. Christian Conference of Asia, Singapore 1984


Anregungen und Kommentare bitte an Prof. Rihito Kimura: rihito@human.waseda.ac.jp

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